Ludwigs
Burg
Festival

Führen wir einen Dialog oder hören wir nur unser Echo?

Andreas Weber über die Bedeutsamkeit des Zuhörens

»Ich, ich, ich!« — In der heutigen Welt drehen wir uns nicht selten nur um uns selbst. Wenn es nach dem Biologen und Autor Andreas Weber geht, dann ist diese egozentrische Weltanschauung ein maßgebender Auslöser gegenwärtiger ökologischer und sozialer Probleme.

Sich als Festival auf den Weg in eine nachhaltigere Zukunft zu machen, funktioniert nur unter einer Prämisse: dem Zuhören. Hier legt Andreas Weber den Finger in die Wunde. Denn seiner Meinung nach haben wir Menschen genau das verlernt. Für ihn beginnt jedoch erst mit dem Zuhören die Wahrnehmung des Gegenübers. Im Zuhören liegt der Kern nachhaltiger und solidarischer Handlung und im Verstehen schließlich das Gefühl von Zugehörigkeit – die eine Grundlage unserer Zivilisation darstellt. In seinem nachfolgenden Text verdeutlicht Weber, dass hinter dem Zuhören auch das fundamentale Prinzip der Gegenseitigkeit steht: »Ich bin, weil du bist«.


Andreas Weber – Zuhören


Es gibt ein zentrales Gebot in vielen Kulturen, die nicht wie unsere die Welt für eine Ansammlung von Dingen halten. Das Gebot lautet, leise zu sprechen, wenn wir nicht allein sind. Im Wald, am Fluss, unter dem Berg, der da war, bevor ich da war, gilt es, die schnelle Rede zu vermeiden. Der Wald vernimmt, was ich sage. Der Berg hört zu.


Diese Rücksicht irritiert uns. Ein Berg – was ist das mehr als ein Haufen Materie? Mag sein, dass wir Menschen im Laufe der Zeit zu diesem Berg Geschichten erfunden haben, von Fabelwesen, Heiligen und Helden. Aber diese Geschichten sagen, so denken wir, nichts vom Berg, nur von uns. Dinge sind stumm. Was wir vernehmen, ist ein Monolog der Kultur. Warum sollten wir auf den Fels lauschen? Es gibt nichts zu erfahren.


Wenn wir weghören, erfahren wir tatsächlich das Wichtigste nicht. Wir bleiben taub dafür, dass in dieser Welt alles auf Gegenseitigkeit beruht. Sie ist das Prinzip ökologischer Existenz. Nur weil andere existieren, kann der einzelne sein. Nur weil Pflanzen Sauerstoff ausatmen, kann ich ihn einatmen. Nur weil Hummeln sie bestäuben, blühen die Blumen. Nur weil sich am Berg Wolken bilden, regnet es.


Das »Shhh!« der Naturvölker gegenüber den Bäumen, dem Wasser und den Bergen ist eine ökologische Einsicht. Von den anderen Wesen hängt ab, ob auch der Mensch, ihr jüngstes Geschwister, gedeihen kann. Solche Kulturen nehmen Rücksicht auf das fundamentale Prinzip der Gegenseitigkeit. »Hör zu!«, lautet es. »Gib den anderen Raum, denn nur so erhältst du deinen.«

Wer nicht horcht, negiert sein Gegenüber. Das sprichwörtliche »Du hörst mir nie zu!« heißt eigentlich: Du nimmst mich nicht wahr, nicht so wie ich bin. Wer nicht zuhört, verweigert Gegenseitigkeit. Er missbraucht den anderen als Bühne.


Diesen Missbrauch hat unsere Zivilisation zu ihrem Dogma erhoben. Unser Weltprinzip ist der Monolog. Wir glauben, dass alles Gute davon kommt, dass der Stärkste den Ton angibt. Der Stärkste hört gerade nicht zu. Er brüllt andere nieder – oder labert sie voll. Unser Gebot ist nicht das Lauschen, sondern der Narzissmus – das Gegenteil des Zuhörens.


Wir wählen Menschen, die Entscheidungen über uns treffen, danach aus, wie geschickt sie anderen über den Mund fahren, also wie wenig sie zuhören. Um in den Eliten tonangebend zu sein, zahlt sich Eigensucht aus. Nicht Hinhören ist Trumpf.


Narzissmus aber ist nicht nur Eigensucht. Narzissmus ist eine ökologische Todsünde. Er zerstört die Gegenseitigkeit, die Leben ermöglicht. Der Sieg des Narzissmus begann in dem Moment, als unsere Kultur der Welt die Stimme abgesprochen hat, als wir erklärt haben, alles außer uns seien nur tote Dinge.

Das wichtigste Ethos indigener Kulturen besteht darin, keinen Narzissmus zu dulden. Darum behandeln sie andere Wesen mit Ehrfurcht als Personen. Darum haben sie in der Regel auch keinen »Häuptling«, sondern einen gewählten Ältestenrat. Narzissmus stört Ökosysteme, vergiftet Beziehungen – und er ist inhärent undemokratisch.


Der Grundsatz der alten Kulturen lautet nicht wie unserer: »Ich bin, weil ich gegen Dich gewonnen habe.« Sondern: »Ich bin, weil du bist.« Es ist ein Gebot, das wir uns schleunigst aneignen sollten. Nur wer zuhört, wird die Welt fruchtbar halten, für jetzt und für alle Zeiten.


Der Text entstand im Rahmen von »Zuhören #4, Climate change & democracy, from complexity to action« von Sasha Waltz & Guests | Education & Community 2019.