Ludwigs
Burg
Festival

Die belarussische Revolution

»Die Energie der Solidarität«

Nach Alexander Lukaschenkos Wahlfälschung im August 2020 erwachte Belarus aus einer langjährigen Lethargie und begehrte auf. Der belarussische, seit Jahren in Deutschland lebende Dirigent Vitali Alekseenok war vor Ort und erlebte die friedliche Revolution, aber auch die gewaltsame Antwort des Regimes hautnah mit. Um seine Erlebnisse in Minsk festzuhalten und der dortigen Demokratiebewegung mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, hat er mit »Die weißen Tage von Minsk« schließlich eine Chronik der belarussischen Revolution begonnen.

Dem Buch ist ein Vorwort der belarussischen Dichterin Valzhyna Mort vorangesetzt, die eine aktive Anteilnahme an der politischen Lage in Belarus und vor allem eine klare europäische Solidarität einfordert: »Nach dem, was seit August hier geschieht, sollte Belarus für niemanden in Europa ein fernes Land sein. Dies ist die Geschichte der Gegenwart, die sich mitten auf dem europäischen Kontinent ereignet.« Diese Geschichte dokumentiert Vitali Alekseenok in seinem Buch und beginnt mit dem Juni 2020, als er in Deutschland über die internationale Presse von den beginnenden Protesten und der Verhaftung von Viktar Babaryka und Sergej Tichanowski erfuhr. Neben diesen beiden Männern wollte sich auch Waleri Zepkalo in der anstehenden Präsidentschaftswahl gegen Alexander Lukaschenko als Kandidat aufstellen lassen, ihre Registrierung wurde jedoch nicht angenommen. Stattdessen wurden sie durch Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkala vertreten. Dieses starke Oppositionstrio wurde zum politischen Symbol für die Friedensbewegung. Ihren Protest führten sie mit einer entschlossenen Faust (Tichanowskaja), einem entwaffnenden Peace-Zeichen (Veronika Zepkala) und einer hoffnungsvollen Herz-Geste (Maria Kalesnikava) an und beteiligten sich an den friedlichen Demonstrationen. Um die Gewalttaten zu stoppen, mit denen die Regierung im August 2020 auf die Proteste reagierte, boten sie dem Regierungsstab einen Dialog an. Jedoch war die Sprache Lukaschenkos eine der Gewalt, die er durch ein verschobenes, propagandistisches Narrativ zu legitimieren suchte. Unabhängigen Wahlbeobachter*innen wurde der Zutritt sowohl für die vorzeitige Stimmabgabe ab dem 4. August als auch für die eigentliche Präsidentschaftswahl am 9. August verwehrt. Regierungsfreundliche Wahltagsbefragungen verkündeten, dass 79,9 Prozent der Stimmen an Lukaschenko und 6,8 Prozent der Stimmen an das Oppositionstrio um Swetlana Tichanowskaja gegangen seien – ausländische und unabhängige Befragungen ergaben hingegen ein umgekehrtes Bild: 79,7 Prozent für die Opposition, 6,2 Prozent für Lukaschenko. Auch die Europäische Union erkannte das Wahlergebnis nicht an und sprach ihm »jegliche demokratische Legitimität« ab. Das Internet wurde vom 9. bis zum 12. August im ganzen Land lahmgelegt, um die Verbreitung von Informationen und die Organisierung von Lukaschenko-Gegner*innen zu unterbinden.


Womit die Regierung jedoch nicht rechnete: Fast ganz Belarus erwachte aus dem gelähmten und ohnmächtigen Zustand, in dem sich das Land – zumindest aus Alekseenoks Perspektive – seit dem Amtsantritt Lukaschenkos 1994 befand. Die Demonstrationen ergossen sich über die Straßen von Minsk und weiteren Städten. Allesamt waren sie friedvoll. Es formten sich kreative, bunte, hoffnungsvolle Formen des Protests; Musik und Kunst entstanden daraus, die »Energie der Solidarität« füllte die Herzen der Belaruss*innen, die sich ein friedliches und demokratisches Land wünschten. »Der Hässlichkeit der Gewalt setzten sie Liebe und Schönheit entgegen. Und das hatte einen größeren Effekt: Durch ihren stillen Protest weckten sie die innere Kraft der Menschen. Sie waren lauter als das tausendstimmige Dröhnen der vorbeifahrenden Autos oder der schreckliche Lärm von Schockgranaten. Das Weiß ihrer Kleidung im Widerschein der Augustsonne leuchtete hoffnungsvoll und reinigte uns von den blutigen Erfahrungen der vergangenen Tage«, schreibt Vitali Alekseenok in seinem Buch.


Mit Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 verlagerte sich der öffentliche Fokus auf den dortigen Krieg. In dessen Schatten konnte der belarussische Präsident seinen antidemokratischen Kurs vertiefen. So ließ er nahezu unbemerkt per Referendum entscheiden, dass ihm – ähnlich wie Putin – eine Amtszeit bis 2035 möglich und zudem eine völlige Straffreiheit zugesichert sei, sollte er wider Erwarten das Amt früher verlassen. Mittlerweile findet die belarussische Friedensbewegung nicht mehr in Form von Massendemonstrationen auf den Straßen des Landes statt. Zu groß sei die Gefahr, in Gefangenschaft zu landen, so Swetlana Tichanowskaja, die im Mai dieses Jahres neben Kalesnikava und Zepkala den Internationalen Karlspreis zu Aachen für ihre Verdienste für die Einheit Europas bekam. Auch Maria Kalesnikava geriet ins Fadenkreuz des Regimes und wurde 2020 inhaftiert und schließlich zu skandalösen 11 Jahren Haft verurteilt. Stattdessen finde der Widerstand nun im Untergrund statt. Das Gesicht der mutigen Friedfertigkeit und Unschuld hat die Bewegung jedoch nicht verloren. Tichanowskaja ist sich sicher, dass der demokratische Wandel stattfinden und Lukaschenkos Regime enden wird.

 

Vitali Alekseenok
»Die weißen Tage von Minsk«
ISBN 978-3-10-397098-2

Am 11. Juni fand »Die Unvollendete Revolution« im Forum am Schlosspark statt. Vitali Alekseenok konzipierte diesen Konzertabend als Hommage an Maria Kalesnikava und brachte mit drei Uraufführungen von belarussischen Gedichtvertonungen ein musikalisches Zeitzeugnis nach Ludwigsburg. Drei Reaktionen auf dieses bewegende Konzert möchten wir besonders mit Ihnen teilen.

Maria Kalesnikava aus dem Gefängnis, übermittelt durch ihre Schwester Tatsiana:


»Herzlichen Dank! Ich bin sehr gerührt von der Aufmerksamkeit, danke für die Unterstützung der Ludwigsburger Schlossfestspiele und ich bewundere alle talentierten Belarussen - nur weiter so!

Kunst ist stärker als Angst!«



Vitali Alekseenok an Maria Kalesnikava:


»Dear Maria,

 

As I described in my book, we first met in person, not on the concert stage as planned, but when we both occasionally at the same time brought flowers to the place where Aliaksandr Taraikouski was killed near the Pushkinskaya metro station in Minsk in mid-August 2020. We did not have time to talk much, those days were too busy, too much responsibility rested on your shoulders even then.

 

For more than 21 months now you have been in prison on a completely false and fabricated case. The criminal Belarusian regime kidnapped you on 7 September 2020, and a day later you found yourself on the border with Ukraine. By that time, the regime had already prepared a Kiev-Munich air ticket for you, and the talentless and stupid propaganda had already made a video explaining how you "decided to flee the country". But at the border you tore up your passport and returned home. This return cost you 14 years in prison (we understand that the sentence will probably be less - you will be in prison as long as these criminals stay in power and hold you hostage). Nevertheless, by your deed you preserved probably the most important thing - trust of masses of people in Belarus and admiration of you all over the world. You are the hero who had to suffer for all of us (together with more than 1000 other political prisoners who are in prison now). But you live in us every day and give strength to people all over the world. The most important thing is that you yourself keep the strength to go on living.

 

Yesterday's concert in Ludwigsburg during the Ludwigsburger Schlossfestspiele was dedicated to you (and in your person to all political prisoners in Belarus). I made the dramaturgy of the concert so that in the very centre of it there was you. Or rather your words read out by me and the piece for flute solo played by Guillermo Gonzalez. Guillermo played your flute, the instrument which you played for so many years here in Stuttgart, 15 minutes away from Ludwigsburg! This piece is "Air" by Toru Takemitsu. We know that there is a lack of fresh air in your prison. We know that music and art are like air for you and you miss it so much. But on the other hand, you yourself are in our space, in our air. And yesterday, thanks to thoughts of you, your words, your instrument and your colleagues, we tried to saturate the air with your presence and thoughts of you.

 

We recorded yesterday's concert on ARTE Concert - which means that when you are free again (hopefully very soon) you will be able to hear the concert yourself. Someday a common air will pierce us all.

 

Thanks to all those dear people who made last night's concert possible. Thanks to all Maria's friends who were involved - Jochen Christian Sandig , Viktoriia Vitrenko , Tatsiana Khomich . Thanks to the festival for the realisation of this concept, to the festival orchestra for their professionalism and emotional commitment. And thanks to all the listeners for their attention to Masha and this theme.«



Bariton Äneas Humm an Maria Kalesnikava:


»Liebe Maria,

 

Mein Name ist Äneas Humm und ich bin Opernsänger.

Leider können wir uns nicht persönlich kennenlernen – zumindest nicht jetzt. Diese Zeilen sende ich dir, da ich gestern gemeinsam mit Vitali Alekseenok ein Konzert bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen gestalten durfte, ich sang drei belarussische Werke – und ich habe die ganze Aufführung hinweg an dich gedacht.

 

Der ganze Saal und alle Zuschauer*innen am Bildschirm waren/ sind in Gedanken bei dir und deinen Freunden, die dasselbe Unrecht erleben.

 

Du erbringst das vielleicht größte Opfer, was man als freiheitsliebender Mensch kann. Du bezahlst mit deiner Freiheit dafür, dass du für einen Rechtsstaat kämpfst und dafür, dass Menschen ihre Meinungen kundgeben können. Dies sollten nach meinem Verständnis Rechte sein, die unumgänglich sind.

Ich verneige mich vor deinem Mut, deiner Stärke und Persönlichkeit. Auch gestehe ich, dass ich selbst diese Stärke vielleicht nicht hätte. Als schwuler Mann hat man oft Hindernisse, jedoch ist nichts vergleichbar - mit dem, was du jetzt durchmachen musst. Trotzdem versuche ich mich in deine Situation hineinzuversetzen, und da schaudert es mich.

 

Dein Opfer sei versichert, ist nicht umsonst.

Du bist ein Vorbild für so viele Menschen – eine Kämpferin, und wirst Generationen an Menschen inspirieren, genau das zu tun, was du tust:


Kämpfen! Für Freiheit, Demokratie, Meinungsfreiheit.

Dafür danke ich dir.

 

Ich wünschte, ich könnte für dich etwas tun, außer dir diesen Brief zu schreiben.

 

In Hoffnung, dass du diese Zeilen liest, sende ich dir eine Umarmung.

Hochachtungsvoll

 

Äneas Humm«