Ludwigs
Burg
Festival

Die Messen der drei großen B

Bach – Beethoven – Brahms

Die drei großen B? Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren damit Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Hector Berlioz gemeint. Die aufkommenden nationalen Strömungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machten es sich allerdings zur Aufgabe, zu beweisen, dass im Besonderen deutsche Komponisten zu außerordentlichen Leistungen fähig seien. In diesem Zuge wurde Berlioz durch den damals noch jungen Johannes Brahms ersetzt und fiel damit einer rein ideologischen Entwicklung zum Opfer, deren Folgen bis heute nachreichen; denn zu groß sind die Namen Bach, Beethoven und Brahms. Obgleich diese drei großen Meister zu verschiedenen Zeiten lebten und in unterschiedlichen musikalischen Epochen wirkten, ist es die musikgeschichtliche Gattung der Messe, die im Schaffen eines jeden von ihnen eine besondere Stellung einnimmt. Eine Gattung, die seit der ersten Vertonung des vollständigen Messordinariums von Guillaume de Machaut im Jahr 1364 ihre ursprünglich gesangliche Geschlossenheit mit der Zeit zugunsten einer eigenständigen Instrumentalbegleitung und der Vorstellung einer kunstvoll solistischen Ästhetik aufgab. Dieser immer individueller werdende Umgang mit dem anfänglich so strikten Ordinarium Missae lässt sich anhand dreier außergewöhnlicher Kompositionen, die jede für sich die Gattungsgeschichte maßgeblich beeinflusst haben, zeigen: Bachs Messe in h-Moll, BWV 232, Beethovens Missa Solemnis, op. 123 und Brahms'  »Ein deutsches Requiem«, op. 45.


»Eine regulirte kirchen music zu Gottes Ehren« 

– Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe


Das Ausmaß von Johann Sebastian Bachs musikalischem Schaffen war selbst für seine Zeit außergewöhnlich: Insgesamt 1100 Werke komponierte der gebürtige Eisenacher – Fragmente und verschollene Musikstücke gar nicht mitgerechnet. Der Großteil ist Musik für den Gottesdienst und kirchliche Anlässe: Neben knapp 200 Kantaten und fast 400 Choralgesängen sind es vor allem die zwei großen Passionen, die selbst aus seinem überwältigenden Gesamtwerk nochmals herausragen. Umso erstaunlicher scheint es, dass dabei die wohl bekannteste Gattung der Kirchenmusik beinahe gänzlich fehlt: Lediglich fünf Messen von Bach sind heute überliefert, vier davon in der Form der in der lutherischen Kirche verbreiteten Missa brevis – der kurzen Messe. Im evangelischen Leipzig wurde für die Messgestaltung zunächst auf Werke anderer, meist älterer Komponisten wie Giovanni Pierluigi da Palestrina zurückgegriffen. Diesen Vertonungen des Kyrie und Gloria steht nur eine einzige Messe in Bachs gesamtem Œuvre gegenüber, in der er das gesamte Ordinarium des lateinischen Messtextes vertonte: die Messe in h-Moll, BWV 232.

Dabei war auch die Messe in h-Moll zunächst als Missa brevis konzipiert. Nach dem Tod des Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen im Februar 1733 wurde eine etwa fünf Monate andauernde Landestrauer verhängt, in der keine Musik aufgeführt werden durfte. Bach nutzte diese Zeit, um sich noch im gleichen Jahr mit einer Kyrie-Gloria-Messe bei dem neuen Kurfürsten als »Compositeur bey der Hof Capelle« zu bewerben – ein Titel, den er nach langem Hin und Her im November 1736 endlich verliehen bekam.


»daferne Ew. (Euer) Königliche Hoheit mir die Gnade erweisen und ein Praedicat von Dero Hoff-Capelle conferiren, und deswegen zu Ertheilung eines Decrets, gehörigen Orths hohen Befehl ergehen lassen würden.« 

Widmungsschreiben J.S. Bachs an den Kurfürsten Friedrich August II. von Sachsen im Juli 1733


Den Plan, dieses in sich geschlossene Werk zu einer Missa tota – einer durchkomponierten fünfsätzigen Messe – zu erweitern, fasste Bach wohl in den späten 1740er-Jahren. Das Sanctus übernahm er dabei aus einer bereits 1724 für den ersten Weihnachtstag geschaffenen Komposition, die übrigen Sätze sind wohl in den späten Jahren 1748/49 realisiert worden. Für den Großteil der Komplementierung benutzte Bach das Parodieverfahren: Er entlehnte bereits existierende Sätze aus seinen Kantaten, arbeitete diese textlich und musikalisch um und fügte sie zu einem homogenen Gesamtwerk zusammen. Trotzdem ist der inkonsistente Entstehungsprozess anhand der Originalpartitur, in der Bach bis kurz vor seinem Tod noch Korrekturen vornahm, gut dokumentiert: Jede der insgesamt vier verschiedenen Abteilungen (Kyrie-Gloria, Symbolum Nicenum, Sanctus sowie die abschließenden Sätze Osanna, Benedictus, Agnus Dei und Dona nobis pacem) besitzt ein eigenes Titelblatt. Dass er das gesamte Notenmaterial final zu einer Sammlung zusammenfügte, dürfte seine grundsätzliche Intention, ein Gesamtwerk von gewaltiger Dimension zu schaffen, bekräftigen. Ein Gesamtwerk, das möglicherweise in seiner Endfassung als eine Auftragskomposition für die Cäcilienfeier der »Musicalischen Congregation« 1749 in Wien bestimmt war, denn im lutherischen Leipzig konnte die Messe damals in ihrer Form nicht aufgeführt werden. Gleichwohl war es aber auch Bachs eigener Anspruch, mit der h-Moll-Messe auch in dieser Gattung ein exemplarisches Großwerk zu schaffen – was ihm, wenn man dem Musikschriftsteller und Verleger Georg Nägeli glaubt, durchaus gelungen ist: Als »größte[s] musikalische[s] Kunstwerk aller Zeiten und Völker« pries er Bachs Messe in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« im August 1818 an.


»Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen«­ 

– Ludwig van Beethovens Missa Solemnis


Die musikgeschichtliche Bedeutung, welche die h-Moll-Messe im frühen 19. Jahrhundert hatte, belegt auch ein Brief Ludwig van Beethovens an den Verlag Breitkopf und Härtel aus dem Jahr 1810. In dem Schreiben erwähnte er »von J. Sebastian Bach eine Missa worin sich [ein] Cruxifixus mit einem Basso ostinato […] befinden soll«, neun Jahre bevor er mit der Arbeit an seiner Missa Solemnis, op. 123 begann. Als ihn im März 1819 die Nachricht erreichte, dass Erzherzog Rudolph, sein Schüler, Vertrauter und Gönner, zum Erzbischof von Olmütz in Moravia designiert worden war, verschob Beethoven andere geplante Projekte, um zur feierlichen Ernennung seines Freundes im März 1820 eine Messe für den Gottesdienst fertig zu stellen.


»… der Tag, wo ein Hochamt Von mir zu den Feyerlichkeiten für I.K.H. (Ihre Königliche Hoheit) soll aufgeführt werden, wird für mich der schönste meines Lebens seyn.«  

L. v. Beethoven an Erzherzog Rudolph von Österreich im März 1819


Beethoven erkannte schnell, dass er den Termin nicht würde einhalten können; zu aufwendig und zeitraubend war seine Suche nach einem Gottesverständnis, welches ihm nicht erlaubte, eine obligatorische Vertonung eines tradierten Textes anzufertigen und sich damit in die Jahrhunderte alte Tradition der Messvertonungen von Orlande de Lassus und Palestrina zu stellen. Schon seine C-Dur-Messe von 1807, die er als Auftragswerk für den Fürsten Nikolaus Esterházy komponierte, ist von einer tiefen Ruhe und Vermeidung alles Opernhaften geprägt und trägt bereits deutlich die Handschrift einer Bewegung, die als »Fideismus« bekannt wurde: eine Strömung, die den persönlichen und subjektiven Charakter des religiösen Lebens betonte. Mit der Missa solemnis erreichte Beethoven allerdings eine ungleich höhere sakrale Ebene: Sie ist eine groß angelegte Komposition, die das Thema des christlichen Glaubensmysteriums aus den barocken Wurzeln in einen Aufruf zum selbstverantwortlichen Glauben überführt. Und in der all die komplexen Eigenheiten seines Spätstils und die damit verbundenen musikalischen Freiheiten denen des Individuums in der Gesellschaft entsprechen: nicht Opfer sein, sondern Mitgestalter.

Beethovens besonderes Augenmerk galt dabei den speziellen Erfordernissen der Deklamation des Textes und dessen religiösen Inhalten. Die musikalische Komplexität nimmt ständig zu: Das Kyrie, die Erlösungsbitte an Gott, ist der bei Weitem einfachste und eindringlichste Satz, während das Material schon im Gloria – dem ungleich längeren und komplexeren Text entsprechend – differenzierter und vielschichtiger wird. Beethoven vertonte jeden Textabschnitt in einer Art und Weise, die seine rhetorische Gestalt und liturgische Bedeutung reflektiert, mitunter durch die Verwendung musikalischer Figuren, die seit Jahrhunderten tradiert und bekannt waren. Im Autograf, und nur im Autograf, notierte er über das eröffnende Kyrie die Worte »Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen«. Wahrscheinlich eine private Notiz an den Erzherzog persönlich und einmal mehr ein Ausdruck der persönlichen Zuneigung seinem kaiserlichen Förderer gegenüber. Anders verhält es sich bei dem Abschnitt »Dona nobis pacem«: Hier findet sich die Überschrift »Bitte um innern und äussern Frieden« in allen Abschriften, in der Handschrift findet sich zudem die Ergänzung: »Dona nobis pacem darstellend den innern und äussern Frieden«. Beethoven dachte diesen Satz als Ausdruck der Sehnsucht nach persönlicher Ruhe und nach Frieden auf Erden, nach dem »pax humana« als Voraussetzung für ein von Krieg unbelastetes Leben. Eine Sehnsucht, die nur durch eine gemeinsam und persönlich gelebte Religiosität gestillt werden kann. Von diesem Punkt aus war es für Beethoven nur ein kleiner Schritt zum nächsten großen Werk, der Neunten Sinfonie .

 

»Ich habe meine Trauermusik vollendet als Seligpreisung der Leidtragenden« 

– Johannes Brahms’ »Ein deutsches Requiem«


»Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen [Beethoven, D.M.] hinter sich marschieren hört.«  Die Worte, die Johannes Brahms dem Dirigenten Hermann Levi gegenüber äußerte, zeugen von dem riesigen Schatten, den das musikalische Erbe Beethovens auf dessen »legitimen Nachfolger«, wie Brahms von einigen Zeitgenossen betitelt wurde, warf. Bevor er allerdings den Status als einer der bedeutendsten Komponisten überhaupt zugesprochen bekam, war das Ehepaar Schumann unter den ersten, die Brahms’ immenses Talent erkannten und förderten und mit denen Brahms zeitlebens eine enge Freundschaft verband. Erst auf das Drängen Robert Schumanns hin wurden einige Werke von Brahms bei dem Verlag Breitkopf und Härtel veröffentlicht, was dem Komponisten erstmalig Bekanntheit einbrachte.


»Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geisterwelt bevor.«

Robert Schumann über Johannes Brahms am 28. Oktober 1853 in der Neuen Zeitschrift für Musik


Es waren wohl der Tod Robert Schumanns im Juli 1856 und der Eindruck des vorherigen Selbstmordversuchs seines musikalischen Mentors, der Johannes Brahms erstmalig veranlasste, sich mit verschiedenen Texten für eine Trauermusik zu beschäftigen. Nicht wissend, dass sich Schumann selbst in seinem »Projektenbuch« ein Deutsches Requiem auf Texte von Friedrich Rückert als Werkidee notiert hatte, finden sich noch im gleichen Jahr erste Skizzen zu den Worten »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«. Skizzen, die die Grundlage für den gespenstisch anmutenden zweiten Satz seines späteren »Deutschen Requiems«, op.45 bilden sollten. 1861 schrieb er die Texte der ersten vier Sätze nieder und komponierte die Musik der ersten zwei Sätze, bevor er das Projekt für längere Zeit ruhen ließ und erst mit dem Tod seiner Mutter im Februar 1865 wieder aufgriff. Seiner höchst akribischen Arbeitsweise und zahlreichen anderen Verpflichtungen war es geschuldet, dass es bis Februar 1869 dauerte, bis das Requiem in seiner siebensätzigen, symmetrisch geschlossenen Fassung nach zwei Teilaufführungen erstmals im Leipziger Gewandhaus erklang.

Den Titel »Ein deutsches Requiem« wählte Brahms wohlüberlegt. Er meinte nicht DAS Requiem, kein dogmatisches Axiom, sondern erlaubte sich damit eine subjektive Religionsperspektive mit einer ganz persönlichen Botschaft – im Gegensatz zur h-Moll-Messe und zur Missa Solemnis war die Komposition kein Anlass- oder Auftragswerk, sondern entsprang Brahms’ eigenem inneren Bedürfnis. Die Texte, die Brahms in seiner Muttersprache vertonte, sind dabei keine bloße Übersetzung der Jahrhunderte alten lateinischen Missa pro defunctis (Messe für die Verstorbenen), sondern vielmehr seine ganz persönliche Auswahl an Bibeltexten. Eine Sammlung von Versen, die sich nicht am traditionellen Kanon des Requiems als Totenmesse orientiert, sondern vielmehr den Trost der Hinterbliebenen in den Mittelpunkt stellt – ein Requiem für die Lebenden, voller Kummer, Würde und Zuversicht. »Ich habe meine Trauermusik vollendet als Seligpreisung der Leidtragenden«, meinte Brahms. Und »selig« ist auch der Schlüsselbegriff, das Wort, mit dem Alles beginnt und endet: Mit der Zeile »Selig sind, die da Leid tragen« beginnt der erste Satz; im Finale heißt es: »Selig sind die Toten«. Ein Wort, das von »gesegnet« bis »entschlafen« viele Bedeutungen hat und am Ende schließlich tröstet: »Selig sind die Toten […] dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.« Kein Erlösungsgedanke und keine Wiederauferstehung, sondern einfach Ruhe.

Deshalb steht »[u]nserem Herzen […] Brahms’ Requiem noch näher«, meinte der namhafte Musikkritiker Eduard Hanslick. »Weil es jedes konfessionelle Kleid, jede kirchliche Konvenienz abstreift, statt des lateinischen Ritualtextes deutsche Bibelworte wählt, und zwar so wählt, dass die eigenste Natur der Musik und damit zugleich das Gemüt des Hörers in intimere Mitwirkung gezogen wird.«


Hanslick war es auch, der Brahms’ Werk in den Kontext der drei großen B einordnete: »Seit Bachs h-Moll-Messe und Beethovens Missa solemnis ist nichts geschrieben worden, was auf diesem Gebiete sich neben Brahms’ deutsches Requiem zu stellen vermag.« Und da bis heute keine weitere Messkomposition von so großer historischer und musikalischer Bedeutung entstanden ist, verliert Hanslicks Aussage auch nach knapp 150 Jahren nicht an Aktualität.


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